„Die Evangelikalen“ gibt es nicht, so Thorsten Dietz in „Menschen mit Mission“. In seinem Übersichtwerk versucht sich der Autor an einer Darstellung der evangelikalen Landkarte.
Wer ist der Autor?
Thorsten Dietz ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg. Er selbst sieht sich als evangelischer Christ, mit lutherisch-pietistischer Prägung.[1] Dietz kritisiert ein Bibelverständnis, dass Gottes Wort in Fragen der Historie, Geologie und Biologie als irrtumslos ansieht. „Die Vorstellung, dass vor etwa 5.000 Jahren die ganze Menschheit auf acht Personen reduziert wurde, ist eine Auslegung, die ich ablehne.“ Zudem ist er einer der Frontmänner von Worthaus, befürwortet postevangelikale Formate wie Hossa-Talk und setzt sich für ein progressives Bibelverständnis ein.[2]
Worum geht es in dem Buch?
Dietz postuliert im Vorwort, dass der Evangelikalismus bunt sei, weshalb es ihm darum gehe „eine Befreiung vom Tunnelblick für Verehrer und Verächter“ zu verfassen. „Dieses Buch ist als Einladung an die Skeptiker gemeint, das Positive, Wertvolle und Zukunftsfähige zu entdecken. Zugleich ist es eine Einladung an alle Insider, auch das Kritikwürdige und Erneuerungsbedürftige anzuschauen. Mein Ziel hätte ich erreicht, wenn nach der Lektüre die Gegner des Evangelikalismus milder, seine Anhänger kritischer – und alle differenzierter auf ihn blicken.“
Und so nimmt der Verfasser seinen Leser im ersten Teil mit, sich einen Überblick über die evangelikale Bewegung zu verschaffen. Dieser Teil ist sachlich und kompakt gehalten und hilft, die Wurzeln der evangelikalen Bewegung nachzuvollziehen. „Ein zentrales Ziel dieses Buches besteht darin, als Gegenpol zu den verbreiteten Verkürzungen gleichermaßen die Einheit und Vielfalt evangelikaler Bewegungen zu betonen; und in dieser Absicht vor allem immer wieder die amerikanische und die deutsche Entwicklung zu vergleichen.“
Im nächsten Schritt geht es Dietz dann vor allem um den Aspekt der Einheit, um das Verbindende, was er als „Hauptstraße“ der Bewegung bezeichnet. Er konzentriert sich vorrangig auf die letzten 50 Jahre. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der Lausanner Kongress von 1974. „Hier wird aber auch von Anfang an ein breites Spektrum der modernen Evangelikalen deutlich.“
Im dritten Block skizziert Dietz die Spannungen, die sich aus seiner Sicht gegenwärtig durch die evangelikale Bewegung ziehen. Er blickt auf die apokalyptische Zeitdeutung, den wiedererstarkten Fundamentalismus, eine zunehmende politische Öffnung nach rechts und die gegenläufigen Tendenzen zu einem Postevangelikalismus außerhalb der klassischen Kirchen und Werke. Eine seiner Thesen ist: „Das absolute Vertrauen auf die Bibel ist die Kehrseite eines totalen Misstrauens gegenüber der modernen Welt.“ Es ist fraglich, ob sich Evangelikale wirklich so erheblich über diese Themen auseinandersetzen, wie Dietz dem Leser nahebringen möchte.
Im vierten und letzten Schritt erörtert Dietz Zukunftsfragen. Dabei spricht er Querschnittsthemen wie das Verhältnis zur modernen Kultur, die Bedeutung der evangelikalen Spiritualität, die Entwicklung einer evangelikalen Ethik und zuletzt die Bedeutung von Gemeindegründungen und - entwicklungen an. Dazu schreibt er: „Die meisten attraktiven Gemeinden leben von einem Faktor: von der Bedeutung charismatischer Einzelpersönlichkeiten.“
Was gibt es Konstruktives?
Erwähnenswert ist, dass Dietz sehr um Vermittlung bemüht ist. Seine Darstellungen der Unterschiede sind oftmals vom Werben füreinander geprägt, statt das Unterschiedliche zu betonen. „Aber mein Herz schlägt für diejenigen, die lieber versöhnen, statt zu spalten.“ Jedoch überschreitet Dietz stellenweise auch die Grenzen bzw. es zeigt sich, was ihn bewegt, wenn er im Bereich der Apokalyptik Evangelikale in die Nähe zu Verschwörungstheorien rückt. „Die Warnung vor der Errichtung einer „Neuen Weltordnung“, vor dem hintergründigen Strippenziehern der Globalisten, der Kulturbolschewisten bzw. -marxisten – solche Verschwörungserzählungen finden in evangelikalen Kreisen immer wieder Anklang, wie die Corona-Pandemie wieder einmal deutlich gemacht hat.“ Auch im Bereich der Schöpfungsthematik offenbart sich Dietz als Befürworter der menschlichen Wissenschaft anstatt dem biblischen Schöpfungsbericht zu folgen, der sich für eine Sechs-Tage-Schöpfung ausspricht. „Aber ein hohes Erdalter und die allmähliche Entwicklung des Lebens gelten weltweit als gesicherte Erkenntnisse, denn letztlich greifen inzwischen sehr unterschiedliche Altersbestimmungsmethoden aus vielen Wissenschaftskulturen schlüssig ineinander.“ Er geht sogar so weit, dass er Befürworter eines Kurzzeitkreationismus in die Ecke von weltweiten Verschwörungstheoretikern platziert: „Der Kurzzeitkreationismus kann nur im Zusammenhang mit einer globalen Verschwörungserzählung vertreten werden.“. Das ist jedoch ein Angriff auf eines der Kernelemente vieler Evangelikaler, da Dietz im ersten Teil den „Biblizismus“, nach Bebbington, als ein Grundelement der Evangelikalen herausgestellt hat. Regelrecht „aggressiv“ wird der Autor, wenn er im Kapitel „Die Christliche Rechte“ Evangelikale in Verbindung mit Rassismus und Antisemitismus bringt. „Evangelikalismus ist ein weißes Konzept und eine politische Bewegung.“ Im Gegenzug schlägt er im Kapitel zum Postevangelikalismus einen eher lobenswerten Ton an: „Postevangelikale legen Wert auf intellektuelle Redlichkeit.“ Im Bereich der Baustellen kann der Leser Trends erkennen, die sich in der evangelikalen Bewegung abzeichnen und die nächsten Jahre charakterisieren werden, wobei Dietz bekennt: „Über die Beschreibung hinaus möchte ich auch meine Sicht einfließen lassen; was ich als bedenklich – und was ich als hoffnungsvoll ansehe.“ Der Leser sollte hier immer wieder den Referenzwert von Gottes Wort anpeilen, denn der Autor steht für ein Bibelverständnis, welches kontextualisiert und kulturangepasst sein möchte, weshalb er sich u. a. für ein modernes Rollenverständnis ausspricht. „Das Frauenbild vieler Konservativer entspricht nun mal nicht dem der frühen Christenheit, sondern dem Mitteleuropa der 1950er-Jahre.“
Wer sollte das Buch lesen?
Zunächst einmal ist jeder Leser angesprochen, der sich mit den aktuellen Entwicklungen im evangelikalen Raum auseinandersetzen möchte. Gerade der erste Teil des Buches ist eine kompakte Darstellung sowohl der amerikanischen als auch deutschen Historie. Sicherlich ist das Buch auch für Bibelschüler interessant, die sich im Fach Kirchengeschichte besonders mit dem Evangelikalismus auseinandersetzen. Zuletzt hilft es Gemeindeleitern, Historie, Trends und Tendenzen zu erkennen, um ihre Gemeinden für die Zukunft lehrmäßig auszurüsten.
Weshalb sollte man das Buch erwerben?
Wer sich für die Bewegung der Evangelikalen interessiert, wird hier eine Landkarte erhalten, die ihm hilft, sich selbst zu verorten. Dietz zeigt dem Leser seine eigenen evangelikalen Wurzeln auf und erklärt, was eint und benennt auch das Trennende.
[1] Vgl. https://www.bibelundbekenntnis.de/wp-content/uploads/2018/07/idea_Streitgespr%C3%A4ch-Dietz-Till.pdf.
[2] Siehe hierzu https://blog.aigg.de/?p=5943
Das Buch:
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Dietz, T. (2022): Menschen mit Mission. Eine Landkarte der evangelikalen Welt, SCM R. Brockhaus, 496 Seiten, ISBN: 978-3-41727-035-8, Preis: 19,99€.
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